Interview

(Fragen in Fettdruck, Antworten in Kursivdruck)

Gesang, Chorleitung und Arrangement waren schon seit ihrer Kindheit die großen Leidenschaften von Margarita McCarthy. Sie studierte in Minsk zunächst am Glinka-Konservatorium Chorleitung und Musikpädagogik und schloss dieses Studium mit Auszeichnung ab. Es schloss sich ein weiteres Studium an der Musikhochschule Minsk in Chordirigat mit den Hauptfächern Klavier und Gesang an, dass sie ebenfalls mit Auszeichnung beendete. 13 Jahre lang leitete sie den Universitätschor Minsk, der unter ihrer Führung zahlreiche Auslandsreisen unternahm und oft bei Wettbewerben ausgezeichnet wurde. Seit nunmehr 18 Jahren ist Margarita McCarthy an der Städtischen Sing-und Musikschule München als Chorleiterin und Gesangslehrerin angestellt. Im Rahmen dieser Tätigkeit gründete sie vor 15 Jahren den Kammerchor „Viva Voce“, der mittlerweile zu einem renommierten Jugendchor herangereift ist und bei mehreren Chorwettbewerben prämiert wurde. Mittlerweile hat Margaritha McCarthy genügend sangesfreudige Jugendliche, um sie in verschiedene Altersstufen aufzuteilen. So gibt es nun zwei Vorstufen zu „Viva voce“: „Viva Vocinella“ für Kinder von 6-11 Jahren und „Viva Vocina“ für 12-17 jährige Jugendliche.

Würden Sie sagen, dass ein Verbleiben von Jugendlichen im Chor während der gesamten Phase der Mutation zu vertreten ist?

Ich kann ihnen aus meiner langjährigen Erfahrung sagen, dass ich die Jugendlichen immer im Chor behalten habe und dass das auch immer erfolgreich war. Ich würde nie zu einem jungen Sänger in der Mutation sagen: „komm doch in zwei Jahren wieder.“ Ich mache ihnen immer klar, dass sie weiterhin ein Bestandteil des Chores und deswegen in der Probe auch herzlich willkommen sind. Allerdings bekommen diese Kinder von mir eine individuelle Betreuung. Ich prüfe die Stimmen – gerade von jungen Männern, die in die Mutation kommen – immer einzeln. Es gibt nämlich eine Phase – sehr unterschiedlich lang und sehr unterschiedlich ausgeprägt – in denen es den Jungen aufgrund des Wachstums der Stimmbänder nicht möglich ist, ihre Tonproduktion zu kontrollieren. Man hört dann praktisch nur Krach. Meist dauert diese Phase ein bis drei Monate. In dieser Zeit sollen die Jungen nicht mitsingen, allerdings sollen sie trotzdem in die Proben kommen, um weiterhin ihr Gehör zu schulen. Natürlich erlaube ich es auch, dass sie in dieser Zeit einmal für ein paar Wochen der Probe fernbleiben, beispielsweise um ihre schulischen Leistungen aufzubessern. Wenn die Jungen dann – nach sagen wir vier Wochen – wiederkommen, haben sie meist schon eine ganz andere stimmliche Situation. Ab dann kann man versuchen, den Tonumfang in sehr behutsamen Schritten zu erweitern. Es ist dann immer eine große Freude für mich – und auch für den gesamten Chor – diese kleinen Fortschritte hin zur Männerstimme mit zu verfolgen. Es ist dafür sehr wichtig, dass ein sehr freundschaftliches und vertrautes Klima im Chor herrscht.

Sie erzählten mir Eingangs, dass in ihrem Chor „Viva Vocina“ Jugendliche zwischen 12 und 17 Jahren singen. Dass heißt dann, dass in diesem Chor sowohl Jungen vor als auch nach der Mutation vertreten sind?

Ja, das ist richtig.

Welche Möglichkeiten gibt es für Sie, um zu erkennen, dass eine Stimme beginnt zu mutieren?

Das hört man einfach. Meine intensive Ausbildung macht es mir möglich, auch aus einem Chorklang jede Stimme einzeln wahrzunehmen. Bei den Mädchen, die ja auch in eine Mutation kommen, ist es zum Beispiel so, dass die Übergangsregister nicht mehr so leicht bewältigt werden. Es bricht also plötzlich zwischen h1 und c2 oder e2 und f2. Da viele meiner Chorsänger auch in anderen Chören – beispielsweise Schulchören – singen, wo ich ja dann die Stimmen nicht unter Kontrolle habe, sage ich ihnen auch ganz klipp und klar: „Wenn ihr merkt, dass sich etwas verändert und dadurch das Singen nicht mehr so funktioniert wie zuvor, dann lasst es ab diesem Moment bitte erstmal und versucht nicht, die Töne, die nicht mehr anspringen wollen, mit Gewalt zu erreichen.“ Denn gerade im Chor singt man ansonsten oft ohne es zu merken mit so einem Druck, dass das sehr schädlich sein kann. Oft gebe ich dann auch den Rat, zwar schon noch mitzusingen, aber bestimmte Stellen im Stück einfach wegzulassen. Bei den Jungen mache ich es sogar umgekehrt: Denen suche ich, wenn ihr Stimmumfang nach der Mutation noch klein ist, kurze Stellen in den Stücken, die sie schon bewältigen können und sage ihnen: „Bitte hör ansonsten nur zu, aber diese vier Takte darfst du mitsingen.“

Würden Sie sagen, dass Einzelstimmbildung auch in der Zeit sinnvoll sein kann, in der sie den Jugendlichen im Chor hauptsächlich zum Schweigen raten würden?

Das ist von Stimme zu Stimme sehr verschieden. Bei manchen Männerstimmen ist der Übergang ja so sanft und fließend, dass auch ein ständiges Weitersingen im Chor möglich sein kann. In jedem Fall halte ich es übrigens für sehr sinnvoll, die Jungen darüber aufzuklären, was während der Mutation mit ihrer Stimme passiert. Wenn sie darüber Bescheid wissen, warum ihre Stimme ihnen eventuell für eine Zeit nicht so gehorcht, wie sie sich das vorstellen, können sie damit auch besser umgehen und es ist ihnen nicht so peinlich. Ich teile ihnen dann immer einen Zettel aus, auf dem in Kürze die körperlichen Vorgänge während der Mutation erklärt werden. Den können sie dann zu Hause durchlesen und sich bei Bedarf weiter informieren.

Glauben Sie, dass sonstiger Stimmgebrauch, also Sprechen, Rufen, Schreien, für die Stimme während der Mutation schädlicher sein kann als Singen?

Es ist auf jeden Fall so, dass lautes Sprechen, Rufen und Schreien in dieser Zeit der Stimme sehr schaden kann. Es können sich dadurch sehr schnell Veränderungen der Epitelschicht auf den Stimmbändern ergeben, die sich im schlimmsten Fall zu Knötchen entwickeln können. Und, um das noch einmal zu sagen: Singen halte ich dann nicht für schädlich, wenn der Chorleiter sehr bewusst die Stellen in den Chorstücken auswählt, die die einzelnen Sänger mit ihrer derzeitigen stimmlichen Verfassung gut bewältigen können. Nur der Versuch, die Stimme in Lagen zu benutzen, in denen es gerade einfach nicht funktioniert, wäre kontraproduktiv und schädlich.

Aber wenn nun ein anderer Chorleiter, beispielsweise ein Schulchorleiter nicht ihre Erfahrung hat und die mutierenden Stimmen einfach in jeder Lage singen lässt, dann wäre Singen während der Mutation schädlich?

Ja, das ist auf jeden Fall schädlich und gefährlich. Ich habe schon so oft jungen Stimmen Einzelstimmbildung gegeben, die man eher als Stimmtherapie bezeichnen musste, weil die Stimme durch Überlastung in der Zeit der Mutation so vorgeschädigt war. Mein Wunsch ist daher ganz klar, dass Schulmusiker eine viel fundiertere Ausbildung in Stimmbildung und vor allem in Mutationsstimmbildung erhalten sollten. Denn es ist unheimlich wichtig, die Kinder in dieser Zeit über das aufklären zu können, was mit ihrer Stimme geschieht und ihnen die richtigen Ratschläge geben zu können, wie sie sich weiter mit Musik beschäftigen können, ohne stimmlichen Schaden zu nehmen.

Würden Sie es für sinnvoll halten, mutierende Stimmen in einer Art Mutantenchor zusammenzufassen?

Ich habe noch nie einen Chor geleitet, in dem gleichzeitig so viele Mutanten waren, dass man darüber hätte nachdenken können. Ich halte das aber für einen sehr guten und interessanten Ansatz. Wenn ich so einen Chor leiten würde, würde ich versuchen mit viel Humor zu arbeiten und die Jungen dazu zu bringen, ohne das Gefühl von Peinlichkeit mit ihrer neuen Stimme behutsam zu experimentieren. Humor ist in dieser Phase ganz wichtig, das merke ich auch in meinem Chor. Wenn ein Mutant seine Stimme einfach nicht unter Kontrolle bringt, dann ist es immer sehr heilsam, wenn er auch einmal über sich lachen kann.

Sie haben zuvor davon gesprochen, dass sie schon viele Stimmen reparieren mussten. Glauben Sie, dass man solches Reparieren in chorischer Stimmbildung leisten kann, oder glauben Sie dass das nur in Einzelunterricht geht?

Ich habe hier an der Musikschule das Glück, dass ich mit den Gesangsschülern in sehr kleinen Gruppen oder einzeln arbeiten kann. Oft opfere ich auch meine Freizeit um mit einzelnen Chorsängern stimmlich zu arbeiten. Denn in einer größeren Gruppe ist es einfach nicht möglich, auf stimmliche Probleme individuell einzugehen. Dieses Problem bekomme ich oft, wenn ich Kinder in meinen Chor bekomme, die sehr gerne singen wollen, aber Brummer sind. Wie soll ich diesen Kindern in einer Stunde mit 27 anderen Kindern genügend Aufmerksamkeit widmen um dieses Problem zu lösen. Besser ist es mit den Kindern, die ich schon in der musikalischen Früherziehung bekomme. Hier sind die Gruppen ein wenig kleiner und durch einfache Übungen – wie eine aus zwei Tönen bestehende Begrüßungsformel, die mir jedes Kind immer einzeln vorsingt – schaffe ich es, dass nach zwei Jahren Früherziehung alle Kinder ausnahmslos sauber singen.

Singen Sie in ihren Chören in unterschiedlicher Stilistik?

Besonders bei meinem Jugendchor, also den 12-17 Jährigen, ist die Frage der Stilistik natürlich unglaublich wichtig. In dieser Zeit halten die Jugendlichen ja ihre Ohren in alle Richtungen offen und interessieren sich vor allem für die gerade angesagte Popmusik. Trotzdem ich dem Rechnung tragen möchte, glaube ich, dass es sehr langweilig wäre, wenn ich mit diesem Chor deshalb nur Popmusik machen würde. Ich wähle deshalb oft Chorwerke moderner Komponisten aus, zu denen die Jugendlichen einen Bezug finden können, aber die auch musikalisch so gebaut sind, dass sie eine Herausforderung darstellen, dass die Jugendlichen also viel dadurch lernen können. Diese Herausforderung kann durch schwierige Rhythmik, viele Synkopen, oder ähnliches gegeben sein.

Wenn Sie in unterschiedlichen Stilistiken singen, verlangen Sie dann vom Chor auch einen anderen Stimmklang?

Ja, das tue ich auf jeden Fall.

Um das ein wenig zu präzisieren: Wenn Sie beispielsweise ein Pop-Stück arbeiten, in dem höhere Töne vorkommen, fordern sie dann von den Chorsängern und Sängerinnen ein engeres Ansatzrohr um den typischen Popklang zu erreichen?

Das hängt sehr von den einzelnen Sängern ab. Ein verengtes Ansatzrohr kann sich ja durchaus beim Singen auch ziemlich unangenehm anfühlen. Ich weiß nicht, ob es gut ist, eine solche Stimmgebung mit dem Chor zu versuchen. Wenn man solistisch singt, sieht die Sache anders aus. Ich hatte beispielsweise eine Sängerin im Chor, die als Solistin sehr schön einen richtigen Popklang produzieren konnte. Man hörte auch, dass sie sich damit stimmlich nicht schadet.

Würden Sie dann eine solche Sängerin auch im Chor mit dieser Stimmgebung singen lassen?

Im Chor würde ich dann wohl doch eher zu einer klanglichen Einheit tendieren.

Und das heißt dann: immer runde, eher klassische Stimmgebung?

Nicht unbedingt, man kann da klanglich schon auch ein bisschen experimentieren. Vor allem, wenn es in einem Stück unisono-Stellen gibt, bietet es sich an, auf die Suche nach einem hierfür passenden Klang zu gehen, der dann möglichst von allen produziert werden kann.

Wenn Sie modernes Repertoire singen, wird ihr Chor dann verstärkt?

Nein, wir singen immer unverstärkt.

Würden Sie dem zustimmen, dass schon allein dadurch die Stimmgebung des Chores eher klassisch sein muss, weil ansonsten unverstärktes Singen gar nicht möglich wäre?

Damit haben Sie völlig recht. Bei den meisten Popsängern weiß man wirklich nicht, ob von ihrem schönen Stimmklang noch viel übrig bleiben würde, wenn man die Technik abschalten würde. Man kann prinzipiell schon sagen, dass Pop- und Jazzgesang nur über die Verstärkung funktionieren.

Könnte man dann sagen: auch wenn sie mit ihrem Chor in verschiedenen Stilistiken arbeiten bleibt technisch immer die Gemeinsamkeit, dass die Sänger auf gesunde Weise eine gewisse Lautstärke und Tragfähigkeit des Tones produzieren können müssen?

Ja, auf gesunde Weise Lautstärke produzieren, das ist sehr wichtig. Dem würde ich zustimmen.

Kommen wir nun noch auf den Begriff Vibrato zu sprechen: Sind Sie der Meinung, dass ein natürliches Vibrato auch für den Chor zu begrüßen ist, oder würden Sie hier Abstriche machen?

Zunächst einmal muss ich hierzu sagen, dass jede Form von unkontrolliertem Vibrato für den Chorklang schon extrem störend sein kann. Hier weist solistische Stimmbildung schon einen gewissen Unterschied zum Chorgesang auf, denn im solistischen Bereich, wird diese Vibration ja sehr stark gesucht, wenn wir einmal von der alten Musik absehen. Das kann natürlich sehr schön sein und dem Ohr schmeicheln, wenn es geschmackvoll ist, aber manchmal hört man ja auch ein Vibrato, bei dem man die eigentliche Tonhöhe gar nicht mehr erkennen kann. Und das wäre für einen Chor oder ein Ensemble natürlich fatal.

Würden Sie dann sagen, dass es allgemein für Sänger oder Sängerinnen, die oft solistisch singen, schwerer ist, sich in einen Chorklang zu integrieren?

Natürlich kommt es beim solistischen Singen auf ganz andere Dinge an, und vieles was man als Solist tut – beispielsweise im klassischen Bereich, um allein gegen ein Orchester bestehen zu können – wäre im Chorgesang völlig übertrieben. Deshalb kann es natürlich für einen Solisten schwierig sein, sich soweit zu disziplinieren um sich klanglich in ein Ensemble einfügen zu können.

Würden Sie dann auch sagen, dass Einzelstimmbildung für Solisten immer anders aussehen sollte als für einen Chorsänger?

Das kann man wieder nicht pauschal beantworten. Wenn ich bei einer Stimme aus dem Chor in der Stimmbildung merken würde, dass sie solistisches Potential hat, würde ich mit dieser Stimme auch in diese Richtung arbeiten, damit sie sich entfalten kann. Wenn ich aber merke, dass eine Stimme eine gute Chorstimme ist, aber ansonsten nicht viel mehr hergibt, würde ich nicht versuchen, diese Stimme zu puschen, sondern würde mit ihr nur – gemäß ihrer Natur – sehr fein und präzise arbeiten. Die wichtigsten Qualitäten eines Chorsängers sind nämlich: feine und präzise Klangproduktion, exakte Intonation, gut aufeinander hören.

Wenn eine Sängerin oder ein Sänger nun aber gerne sowohl solistisch als auch im Chor singen möchte: Glauben Sie dass es möglich ist, eine solistische Stimme auf gesunde Weise so zurückzuschrauben, dass sie sich gut in einen Chorklang integrieren kann?

Ich bin mir ganz sicher, dass das möglich ist, denn ich habe schon einige Sängerinnen und Sänger in meinem Chor die mittlerweile Sologesang studieren und sich weiterhin wunderbar in den Chorklang einpassen. Diese Stimmen sind für den Chor auch sehr wichtig, denn ohne solistisch ausgebildete Stimmen wäre bestimmte anspruchsvolle Chormusik auch gar nicht zu machen.

Vielen Dank für das Interview!

Interview geführt von Florian Dengler