Chorreise Sankt Petersburg 2006

Wie bei den Backstreet-Boys!

Der Münchner Chor „Viva Voce“ tritt zu seinem 10-jährigen Jubiläum eine Konzertreise nach St. Petersburg an. Ich habe den jungen Chor begleitet und seine Begegnung mit der russischen Welt dokumentiert. Lesen Sie hier, was jugendliche Sänger alles ertragen müssen, um die Welt zu erobern.

Lange und mühsam war die Vorbereitung. Jetzt stehen sie am Flughafen und warten darauf, dass es endlich losgeht. Die aus Minsk stammende Chorleiterin Margarita McCarthy teilt die Pässe mit den Visa und die Tickets aus. Die Anspannung der letzten Tage ist ihr ins Gesicht geschrieben, Diplomatie ist eben nicht entspannend. Wie viele Anträge hat sie stellen müssen, wie viele Telefonate hat sie geführt! Alle haben sie ihre Konzertkleidung eingepackt und natürlich auch die Noten. Intensiv wurde die letzten Wochen geprobt, um das anspruchsvolle Programm auch gut aufführen zu können. Drei Konzerte stehen anlässlich des 10-jährigen Jubiläums auf dem Programm. Viva Voce ist eigentlich ein internationaler Chor. Fast die Hälfte der Jugendlichen ist nicht in München oder Deutschland geboren. Doch hier, in der städtischen Sing- und Musikschule, hat vor 10 Jahren auch alles begonnen. Der Chor Viva Voce wurde mit ein paar talentierten Teenagern und der erfahrenen Chorleiterin aus Weißrussland aus der Taufe gehoben. Jetzt geht es also nach St. Petersburg.

Ankunft in St. Petersburg. Im Dunkeln bringt ein Bus die Sänger und Sängerinnen in das Hostel. Die Herberge ist einigermaßen ansprechend, Gott sei Dank. Dass es am nächsten Morgen kein warmes Wasser gibt, wird gelassen hingenommen, am folgenden Tag soll es ja wieder welches geben, so das Personal.
Gleich geht es in das Pädagogische Nekrasov College, wo das Festival „Musikalischer Frühling 2006“ eröffnet werden soll. Mit Anzug im Rucksack und Bluse im Gepäck fahren die Sänger mit der tiefsten Metro der Welt zum College, immer begleitet von Choristen des Partnerchors, damit niemand in der voll gestopften U-Bahn verloren geht.
Mit finanzieller Unterstützung Goethe-Institutes und der Städtischen Sing- und Musikschule München ist der Choraustausch mit dem Chor „Gaudeamus“ des College in St. Petersburg organisiert worden. Beim Festival sind auch Chöre aus Moskau und Estland mit dabei. Gleich von Anfang an war klar, dass Viva Voce das bei weitem anspruchsvollste Programm und die professionellste Einstellung hatte. Beim Eröffnungskonzert im College wurde begeistert geklatscht. Der präzise Vortrag und die saubere Intonation zeigte den anderen Chören, was man alles auch im nicht professionellen Bereich aus einem Chor herausholen kann. Deshalb war Viva Voce auch nach Russland gereist, man wollte zeigen, was mit viel Arbeit aber auch Talent möglich ist. Im Mittelpunkt steht ohnehin der kulturelle und musikalische Austausch.

Den Rest des Tages verbringen die 17- bis 30- jährigen Choristen mit Sightseeing, und sie werden nicht enttäuscht. Ein Fotomotiv jagt das andere.

Am späten Abend kann bei russischem Essen und Wodka wieder entspannt werden. „Die russisch sprechenden Chormitglieder wollen uns alles typisch Russische näher bringen. Es ist toll!“ so eine der deutschen Viva Voce-Sängerinnen.

Am nächsten Tag steht ein gemeinsames Konzert in der St. Petri-Kirche direkt am Nevski-Prospekt, der Hauptschlagader der 4-Millionen-Stadt, auf dem Programm. Noch mehr Chöre treten auf, die Nervosität kehrt zurück. Es gibt keinen Raum zum Einsingen und die kleine Kammer zum Umziehen muss im Schichtbetrieb genutzt werden. Die Proben verlaufen schwierig, denn die Kirche hat eine hallende Akustik und die anderen Chöre benutzen die Kirche auch als Pausenraum. Man sieht Fr. McCarthy ihren Ehrgeiz an, sie will zeigen, wie man einen Chor leitet, wie man probt und welche Professionalität auch im Laienbereich möglich ist. Bei den Proben für Stücke, die gemeinsam mit russischen Chören präsentiert werden, merkt man den Niveau-Unterschied am Deutlichsten.
Die Mädchen des Partnerchors „Gaudeamus“ haben mittlerweile Gefallen an den jungen Tenören und Bässen gefunden. Es werden hunderte Photos mit den deutschen Choristen gemacht, Teddybären geschenkt und Autogramme gejagt.

Das letzte Konzert im Rimskij-Korsakov Konservatorium steht noch an. Da soll auch wirklich alles klappen, denn hier ist höheres Niveau gefragt. Erholt hatte sich bisweilen noch niemand richtig. Es war das dritte Konzert in drei Tagen. Man sah den jungen Sängern und Sängerinnen die Nervosität an, allerdings durchaus begründet. Es wurde leider nicht ermöglicht im Konzertsaal zu proben. Alle waren von der vorherrschenden Akustik überrascht. Der musikalische Zusammenhalt im Chor erwies sich als äußerst schwierig. Doch nach anfänglichen Schwierigkeiten, wurden die folgenden Stücke wieder präziser. Für Viva Voce war es ein anstrengendes Konzert. Nicht alles gelang, doch die Kritiker waren sehr zufrieden. Vor allem das in Russland eher unbekannte Repertoire der zeitgenössischen (geistlichen) Musik beeindruckte das Publikum.

Ein Abschlusskonzert im College stand noch auf dem Programm, sozusagen als Zugabe für das College. Das Chorprogramm war an diesem Tag bis auf drei Stücke gekürzt, um für das Highlight des Abends, das Konzert der Nostalphoniker, Platz zu machen. Mit Witz und Ausdruckskraft und musikalischem sowie tänzerischem Talent wussten es die Jungs das russische Publikum von den Socken zu reißen. Es gab stehende Ovation.

Die letzten beiden Tage konnte der Chor gemütlich die Stadt besichtigen. Alle sind ziemlich erschöpft. Natürlich ist die gesamte Kommunikation in Russland etwas anstrengend, doch man kann sich im Notfall immer noch mit Händen und Füßen verständigen. Auch die weiten Wege zehren an den Kräften. Die Energie reichte gerade noch für die wichtigsten Bilder im russischen Museum.

St. Petersburg scheint trotzdem erobert. Margarita McCarthy konnte zeigen, was alles mit einem Chor möglich ist. Die nächsten Konzerte in Deutschland werden bereits geplant, doch eine Einladung zu einem internationalen Festival des St. Petersburger Konservatoriums im August wird wohl nicht angenommen werden können. Schließlich wollen die Schüler und Studenten auch einmal richtigen Urlaub machen. Denn am Montag hieß es wieder arbeiten, lernen bzw. die Schulbank drücken.

Bei der Abreise am Flughafen warteten natürlich schon einige weibliche, russische Fans zur Verabschiedung, sie winkten noch, bis der Münchener Chor außer Sichtweite war. Vorher küssten sie noch jeden männlichen Choristen auf die Wange. Postkarten von München und St. Petersburg und natürlich auch E-Mail-Adressen waren beliebte Tauschobjekte. „Wie bei den Backstreet-Boys“ bemerkte ein Österreicher aus dem Tenor, der gerade einem Touristen aus Wien erklären muss, warum hier soviel herumgekreischt wird: „Ach, das ist nur ein Choraustausch!“

Klemens Patek, Tenor